Titel | INDat Report 02_2023 | März 2023

Zur Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung durch den IX. Zivilsenat des BGH

Notwendige Korrektur einer aus dem Ruder gelaufenen Rechtsentwicklung?

Karlsruhe. Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) bezeichnet die neue Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zur Vorsatzanfechtung neben dem COVInsAG als »erheblichen Sondereffekt« und hat deshalb die fünf Jahre nach Inkrafttreten des »Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz«″ vorgegebene Evaluation um drei Jahre auf April 2025 verschoben. »Der Erkenntniswert einer auf den ursprünglichen Zeitraum bezogenen Evaluation wäre dadurch erheblich beeinträchtigt«, heißt es aus dem BMJ. Der Reformgesetzgeber von 2017 war angetreten, eine von Marktteilnehmern als ausufernd bezeichnete Praxis der Vorsatzanfechtung einzudämmen. Diese gesetzliche Neujustierung galt es ursprünglich im April 2022 zu evaluieren. Die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung durch den BGH nahm ihren Ausgang im Urteil vom 06.05.2021 (IX ZR 71/20), das seit dessen Veröffentlichung am 05.07.2021 und mit seinen Folgeentscheidungen hohe Wellen schlug und weiterhin schlägt. Die Reaktionen in sozialen Medien, in Vorträgen und in der Fachliteratur sprechen von Richtungsänderung oder Kehrtwende, beipflichtende Stimmen nennen es »überfällige Neujustierung« und kritische Kommentatoren »Vorsatzanfechtung ade«. Gleichzeitig weist der BGH darauf hin, dass die Neuausrichtung in der Mehrzahl der Fälle zu keinem abweichenden Ergebnis führen werde. Was bedeutet die Neuausrichtung letztendlich für das sog. scharfe Schwert der Insolvenzverwalter zur Massemehrung und die Verteidigungsmöglichkeiten für Anfechtungsgegner? Handelt es sich etwa um eine Verzwergung der Vorsatzanfechtung oder eher um die notwendige Korrektur einer aus dem Ruder gelaufenen Rechtsentwicklung? Erstmalig äußert sich der ehemalige Vorsitzende des IX. Zivilsenats, Prof. Dr. Godehard Kayser, zur neuen Rechtsprechung seines ehemaligen Kollegiums in schriftlicher Form und unternimmt eine Einordnung und Bewertung der Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung unter Einbeziehung von Grundlagen und Hintergründen. Mit der Reform des Anfechtungsrechts von 2017 geht Kayser hart ins Gericht: Dort sei »systematischer Pfusch« betrieben worden.

Text: Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D. Prof. Dr. Godehard Kayser

I. Vorbemerkung

Kürzlich hat der BGH in seinem zur Vorsatzanfechtung ergangenen Urteil vom 13.10.2022 (IX ZR 130/21, ZIP 2022, 2501) noch einmal zusammengefasst, welche Anforderungen er an die Feststellung des Vorsatzes und an die Kenntnis des Anfechtungsgegners hiervon stellt. Er hat wiederholt, dass diese Voraussetzungen in aller Regel nur mittelbar aus objektiven Hilfstatsachen hergeleitet werden können (Rn. 9), welche Aufgabe dem Tatrichter bei der Feststellung zukommt (Rn. 10) und worauf sich die revisionsrechtliche Kontrolle in diesem Zusammenhang erstreckt (Rn. 11). Das Urteil hebt mahnend hervor, dass die neue Rechtsprechung des BGH zu den für und gegen den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz sprechenden Beweisanzeichen zu berücksichtigen sei, die Indizien eine Gesamtwürdigung nicht entbehrlich machten und nicht schematisch im Sinne einer von dem anderen Teil zu widerlegenden Vermutung angewandt werden dürften (Rn.  10). Das alles klingt ohne Studium der dort ergänzend zitierten neueren Urteile nach purer Wiedergabe des Rechtsprechungsstands, wie er unter dem Vorsitz des Verfassers und seiner beiden Vorgänger entwickelt worden ist (dazu näher Kayser, WM  2013, 293–340; ders., NJW 2014, 422–428). Ist das Wasser auf die Mühlen derjenigen Kommentatoren der neuen Rechtsprechung, die meinen, letztlich habe der BGH alles beim Alten gelassen? Oder ergibt eine sorgfältige Analyse der Anfechtungsrechtsprechung der letzten beiden Jahre eine totale Kehrtwende oder liegt die Wahrheit in der Mitte, dass sie im Grunde nur die Kräfteverhältnisse im Anfechtungsprozess besser berücksichtigt, bei denen der Insolvenzverwalter aufgrund seiner Einsicht in die Geschäftsunterlagen des Schuldners und seiner Ermittlungsmöglichkeiten überlegen ist (Hiebert, ZInsO 2022, 1660, 1665)? Dient die Neuausrichtung dem Rechtsfrieden oder führt sie letztlich nur dazu, dass die Rechts­sicherheit entgegen dem Gesetzestitel des Anfechtungsreformgesetzes weiter verschlechtert wird, die Quotenerwartungen weiter sinken und die Tendenz zu weniger Verfahrenseröffnungen verstärkt wird (Büttner, INDat Report 03_2022, 13, 21)? Gerne äußere ich mich zu diesen Fragen. Was hat sich im Bereich der Vorsatzanfechtung durch die Gesetzesnovelle und die Rechtsprechung geändert? Was bedeuten die Änderungen in der Praxis? Welche Strate­gien bieten sich – je nach Perspektive – für den Verwalter, aber auch für den rechtlichen Berater bei der Durchsetzung oder der Abwehr von Ansprüchen aus Insolvenzanfechtung an?

II. Beweggründe für die Neuausrichtung

Es wäre verkürzend, die Neuausrichtung der Rechtsprechung im zeitlichen Anschluss an die »personelle Runderneuerung« des IX.  Zivilsenats allein an dem teilweise neuen Senatskollegium festzumachen. Sie speist sich, wie ich die Dinge sehe, auch aus einer zweiten Quelle, nämlich der Reform des Anfechtungsrechts durch das »Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz« vom 29.03.2017 (BGBl. I 654). Die ersten Rechtsfälle, die auf der Grundlage der Neuregelung zu entscheiden waren, wurden beim BGH erst nach dem Ausscheiden des Verfassers sowie zweier weiterer langjähriger Senatsmitglieder aus der Senatsarbeit spruchreif. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, die schon durch die veränderte Gesetzeslage geforderte Neuausrichtung der Rechtsprechung erst nach den personellen Wechseln der Jahre 2019/2020 in Angriff zu nehmen.

In der Rückschau ist es mehr als bedauerlich, dass die damalige Leitung der Zivilrechtsabteilung des BMJV offenbar nicht den »Mumm« hatte, die obersten Bundesgerichte, zuvörderst den BGH, an den Gesetzgebungsarbeiten zur Anfechtungsreform zu beteiligen. Dies war schon deshalb kurzsichtig, weil von Karlsruhe kon­struktive Beiträge für die vom Ministerium angestrebte rechtssichere Lösung zu erwarten waren. Wenn es der eine oder andere auch nicht glauben mag, wären in Karlsruhe ausgewogene Vorschläge erarbeitet worden, welche die Interessen der Masse wie die der von der Vorsatzanfechtung bedrohten Gläubiger in ein gerechtes Verhältnis gesetzt hätten. Es soll an dieser Stelle nur an den Beitrag von Schoppmeyer (ZIP 2009, 600) erinnert werden. In weiteren Beiträgen hat Schoppmeyer erwägenswerte Maßstäbe, nach denen das Insolvenzanfechtungsrecht rechtssystematisch auszurichten sei, ausführlich dargestellt (WM 2018, 301 ff., 353 ff.). Der Verfasser hatte schon beim Aufbranden der Diskussion um die angebliche Überdehnung der Vorsatzanfechtung den inneren Grund für diese Entwicklung benannt: Bei kongruenten Deckungen sei daran zu erinnern, dass nach allen empirischen Erkenntnissen die materielle Insolvenz des Schuldners und damit die anfechtungsrechtlich relevante Krise (»kritische Zeit«) regelmäßig viel früher eintrete, als es §§  130, 131 InsO definierten (vgl. Kayser/Heidenfelder, ZIP 2016, 447, 448). Erfasste die Deckungsanfechtung nach diesen an die Rechtswirklichkeit anzupassenden Vorschriften den gesamten Zeitraum der Zahlungsunfähigkeit, könnte die Vorsatzanfechtung auf die Fälle der echten Absichtsanfechtung begrenzt werden.

Die Verfasser der Anfechtungsnovelle haben diese Überlegungen nicht aufgegriffen, sondern maßgeblich auf die Expertise der Berufsverbände gesetzt, deren Begründung teilweise bis in die Wortwahl die Blaupause für die Gesetzesbegründung geliefert hat (vgl. BT-Drs. 18/7045; Empfehlungen des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Drs. 18/11199). So erklären sich die wolkigen Begriffe der »Unlauterkeit« und der »Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs«, welche Eingang in §  142 Abs.  1, 2 Satz 1 InsO gefunden haben (vgl. Kayser, ZIP 2018, 1153). Die Erschwerung der Anfechtung durch den Reformgesetzgeber baut auf dem Rechtsprechungsgebäude des IX. Zivilsenats auf, nimmt dessen Auslegung zu §  133 InsO im Grundsatz hin und beschränkt sich auf mehr oder wenig geglückte chirurgische Eingriffe (vgl. Kayser, ZIP 2014, 1966). Im Ergebnis hat die lobbymäßig getriebene und rein ergebnisorientierte Reform des Anfechtungsrechts – ich sage es einmal hart – systematischen Pfusch geliefert. Insbesondere wurde es versäumt, beim Verhältnis von §  133 InsO zu §  130 InsO einen sauberen Neustart zu wagen.

Der Senat war deshalb – so ist jedenfalls meine Wahrnehmung  – in zweifacher Weise gefordert: Er musste der Neuregelung Konturen verleihen, und zwar unter gleichzeitiger Umsetzung der Vorstellungen des Senats in seiner zum Teil neuen personellen Besetzung.

(…)

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