Titel | INDat Report 04_2023 | Mai 2023
Fünf Praxisfälle: Sanierungsgeschäftsführer und Sachwalter erläutern die Ursachen
für die zeitnahe Folgeinsolvenz und die wiederholte Eigenverwaltung
Gute Gründe für eine erneute Eigenverwaltung?
Köln. Bekanntermaßen bietet das Schutzschirmverfahren bzw. die (vorläufige) Eigenverwaltung den Unternehmen bzw. Geschäftsleitern eine zweite Chance, was sie verstärkt seit Einführung des ESUG nutzen. Trotz (drohender) Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung führen sie das operative Geschäft uneingeschränkt weiter, können Vertrauen zurückgewinnen, neue Finanziers einbinden und gemeinsam mit Beratern bzw. Sanierungsgeschäftsführern und Sachwaltern die Krise (nachhaltig) finanztechnisch und operativ mit Insolvenzplan oder einem Asset Deal überwinden. Doch wenn vor allem das Geschäftsmodell auf wackeligen Füßen steht oder sogar absehbar keine Zukunft mehr hat und sich die Planungen, Annahmen und Prognosen nicht bewahrheiten, droht auch die zweite Chance in der Eigenverwaltung zu scheitern. Allerdings können auch exogene, trotz volatiler Zeiten nicht vorhersehbare Faktoren wie jüngst die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg (mit) die Auslöser der erneuten Schieflage sein, die die bisherigen Sanierungserfolge und die laufenden Sanierungsmaßnahmen zum Kippen bringen. Anhand der Beispiele Gerry Weber, Gebrüder Götz, Lindenfarb, Pluradent und Kappus (zu Galeria Karstadt Kaufhof siehe das Interview mit Arndt Geiwitz in dieser Ausgabe) sollen Ursachen für den erneuten und in relativ kurzer Zeit nach Aufhebung des vorherigen Verfahrens gestellten Insolvenzantrag in Eigenverwaltung ergründet und der Frage nachgegangen werden, warum in der Folgeinsolvenz nochmals die Eigenverwaltung anstelle des Regelinsolvenzverfahrens präferiert und angeordnet wurde.
Text: Sascha Woltersdorf
Am 25.01.2019 stellt die Gerry Weber International AG (GWI) den Antrag auf Insolvenz in Eigenverwaltung. Das AG Bielefeld bestimmt RA Stefan Meyer (Pluta Rechtsanwalts GmbH) zum vorläufigen Sachwalter. Das Unternehmen setzt RA Dr. Christian Gerloff (Gerloff Liebler Rechtsanwälte) als Generalbevollmächtigten ein. Das Verfahren betrifft die Muttergesellschaft mit ihren rd. 580 Mitarbeitern. Zuvor waren Gespräche mit den Finanzierungspartnern der Gruppe gescheitert. Johannes Ehling, Vorstandssprecher der Gerry Weber International AG, sieht sich »bestens positioniert«, um unter insolvenzrechtlichen Bedingungen wieder in die »Erfolgsspur zurückzukehren«, wie es damals in einer Pluta-Pressemitteilung heißt. Unter anderem sei geplant, rd. 230 Verkaufsflächen zu schließen und 900 Arbeitsplätze im In- und Ausland abzubauen. Das betrifft vor allem die Stores und Verkaufsflächen, aber auch Zentralfunktionen inklusive der Logistik. Stefan Meyer zeigt sich optimistisch: »Anders als in vielen anderen Fällen ist hier schon sehr viel wertvolle Vorarbeit geleistet worden. Es muss nicht erst ein Restrukturierungsprogramm unter zeitlichem Druck erarbeitet werden.« Auch weil man sofort weitermachen könne, sei er »sehr optimistisch, dass wir schnell zu einer guten und belastbaren Lösung für das Traditionsunternehmen kommen werden«.
Generell sei gerade in der Fashionbranche und im Handel eine Eigenverwaltung auch »vor dem Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit in vielen Fällen die anzustrebende Lösung, um die Marke und das Geschäftsmodell nicht zu gefährden und um die nahtlose Fortsetzung des operativen Geschäfts während des Verfahrens sicherzustellen«, teilen Stefan Meyer und Christian Gerloff dem INDat Report mit. Bis Anfang Juni 2019 melden 1500 Gerry-Weber-Gläubiger Forderungen von rd. 275 Mio. Euro an, 146 Stores und Verkaufsflächen müssen infolge der Insolvenz in Deutschland geschlossen werden, circa 330 Vollzeitarbeitsplätze fallen weg. Im Juli 2019 sichern die Fondsverwalter Robus Capital Management Ltd. und Whitebox Advisors LLP knapp 50 Mio. Euro für Gläubigerbefriedigung und Finanzierung des operativen Geschäfts zu. Wesentlicher Bestandteil der Vereinbarung: Die Gerry Weber International AG erfährt eine Kapitalherabsetzung von 45.895.960 Euro auf 8733 Euro sowie eine anschließende Barkapitalerhöhung durch Begebung neuer Aktien auf 1.025.000 Euro. Die neuen Aktien sollen zuerst vollständig von Robus/Whitebox gezeichnet werden. Ein Teil der Aktien soll Gläubigern zur Verfügung gestellt werden, die sich für diese Option entscheiden. Die andere Option lautet Barabfindung. Am 18.09.2019 nimmt die Gläubigerversammlung der Gerry Weber International AG im gerichtlichen Erörterungs- und Abstimmungstermin den Insolvenzplan für den Erhalt der Gesellschaft nach diesen Planungen mit großer Mehrheit an. Zuvor haben die Gläubiger der Gerry Weber Retail GmbH & Co. KG den Insolvenzplan der Tochtergesellschaft – beide Verfahren sind zeitlich und materiell aufeinander abgestimmt – angenommen. Am 31.12.2019 wird das Eigenverwaltungsverfahren über die GWI aufgehoben, das Verfahren der Tochtergesellschaft im Februar 2020.
Gut drei Jahre später schlägt die Gerry-Weber-Muttergesellschaft erneut einen restrukturierungsrechtlichen Weg zur Krisenbewältigung ein: Am 19.04.2023 zeigt das Unternehmen ein Restrukturierungsvorhaben gem. StaRUG zur finanziellen Sanierung am AG Essen an. Die 100%ige Tochtergesellschaft Gerry Weber Retail GmbH, die Filialen und Outlet-Stores führt, geht dagegen in ein Eigenverwaltungsverfahren. Knapp 180 Verkaufsstellen kommen im Rahmen der Sanierungspläne auf den Prüfstand, und zwar »jeder Quadratmeter«, wie das Unternehmen in den Medien zitiert wird. Im Filialnetz arbeiten rd. 700 Menschen. Christian Gerloff wird Sanierungsgeschäftsführer der Retail. Stefan Meyer wird (vorläufiger) Sachwalter und greift mit Blick auf die externen Herausforderungen durch Pandemie und Geopolitik zu einem Bild aus der Medizin: »Die Gerry Weber Gruppe, die auf dem Weg in die Rehaklinik sogleich in mehrere unvermeidbare und unverschuldete Unfälle verwickelt wurde, ist nunmehr auf die Intensivstation der Klinik zurückverlegt worden, um dort mit den geeigneten Instrumenten des StaRUG und der Insolvenzordnung erneuten, notwendigen Operationen unterzogen zu werden, die unter Berücksichtigung der aktuellen Marktgegebenheiten eine Rückkehr zur Wettbewerbs- und Ertragsfähigkeit der Gerry Weber Gruppe hervorrufen sollen. Dabei schätze ich die Chancen für die Operationen zwar als durchaus herausfordernd, aber gleichwohl erfolgversprechend ein.« Beiden Sanierern zufolge liegt also die erneute Einleitung von Eigenverwaltung und Restrukturierungsvorhaben nicht an einem verfehlten oder nicht umsetzbaren Sanierungskonzept aus den Jahren 2019 und 2020, sondern an den genannten externen Faktoren. Die Corona-Pandemie »mit allen bekannten Folgen für den Modehandel« habe bereits Ende März 2020 zu einer Notaktion geführt: Mit allen wesentlichen Gläubigern mussten Nachverhandlungen geführt und Zahlungsstundungen vereinbart werden. »Es liegt auf der Hand, dass die exakte Umsetzung der Insolvenzpläne angesichts der massiven Auswirkungen der Pandemie nicht möglich war. Der zweite nicht vorhersehbare Schlag war dann der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Auswirkungen auf Inflation, Kaufverhalten und das konjunkturelle Umfeld.«
Nach Verfahrensbeendigung IDW-S-6-Gutachten für Vertrauensgewinn erstellt
Bei der Beendigung der Insolvenzverfahren sei ein sehr aussagekräftiges IDW-S-6-Gutachten erstellt worden. »Anders wäre das Vertrauen von einzelnen Gläubigern nicht zu gewinnen gewesen, die ihre Forderungen teilweise stehen ließen und in Anleihen umwandelten«, teilen Meyer und Gerloff gemeinsam mit. Diese »im Restrukturierungsmarkt einzigartigen« Finanzierungsinstrumente, insbesondere Umwandlung von stehen gelassenen Insolvenzforderungen in verschiedenen Anleihe- und Beteiligungsmodellen, seien von den Gläubigern mit großer Mehrheit akzeptiert und in den Insolvenzplänen aufgegriffen worden. Auch die »Arbeit am Produkt« sei bereits vor der Aufhebung des ersten Verfahrens eingeleitet und teilweise abgeschlossen gewesen: die Verjüngung der Kollektionen und die Ansprache breiterer Käuferinnenschichten z. B. durch »aufsehenerregende Fernsehwerbung«. Nach der Aufhebung der Verfahren folgen dann weitere, detailliertere Konzepte. »Die Transformation der Marke ist noch nicht abgeschlossen, aber sie zeigt klare Erfolge. So konnte Gerry Weber insbesondere die Akzeptanz und Begehrlichkeit der Marke bei Wholesale-Kunden stark verbessern.«
Der erste Schlag – die Corona-Pandemie – wäre sogar noch hinnehmbar gewesen, so Meyer. Als »ausreichend« bewertet er nämlich die im Frühjahr 2020 nach Beginn der Pandemie »sehr aufwendigen« und mit den Gläubigern der Gerry Weber International AG erfolgreich verhandelten Anpassungen des Insolvenzplans. Dabei sei es um Stundungen mit Wertaufholungsoptionen gegangen. Dies habe gereicht, »um die seinerzeit erkennbaren Pandemiefolgen zu kompensieren«. Die Kombination von Pandemie und dem Krieg in der Ukraine mit den daraus folgenden Energie- und Materialpreiserhöhungen sowie die inflationsbedingten Kaufzurückhaltungen beim Endkunden habe verhindert, dass das ursprüngliche Sanierungskonzept erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Meyer und Gerloff: »Der eigentlich innovative Ansatz im Insolvenzplan der Gerry Weber International, größeren Gläubigern durch ein teilweises Stehenlassen ihrer Forderungen eine Wertaufholung zu ermöglichen und damit deutlich höhere Quoten als üblich erzielen zu können, wurde durch die Pandemie, den Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen Folgen mit Blick auf Preise, Kosten und Kaufverhalten zunichte gemacht.« Die neuen Finanzinstrumente hätten sich als »weiterer Ballast« entpuppt während der Pandemie, die aber nicht vorhersehbar war. »Durch diese Verbindlichkeiten und die überwiegend als Kredite gewährten staatlichen Unterstützungsmaßnahmen hat das Unternehmen einen Verschuldungsgrad erreicht, der eine Refinanzierung unwahrscheinlich werden ließ.« Die zweite Eigenverwaltung von Gerry Weber Retail trage den geänderten Rahmenbedingungen im Retail Rechnung, sagen der Sanierungsgeschäftsführer und der vorläufige Sachwalter. »Sie wird zu stärkeren Einschnitten in das Filialnetz führen müssen. Gerry Weber kehrt also in gewisser Weise zu dem zurück, was das Unternehmen groß gemacht hat: die enge Partnerschaft mit dem Wholesale. Gleichwohl wird ein markenbildendes eigenes Filialportfolio bestehen bleiben.«
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