Titel | INDat Report 05_2022 | Juli 2022

Überlegungen zu einer handelsrechtlichen, nicht nur einer insolvenzrechtlichen Frage

Prognosezeiträume in schwierigen Zeiten

Wir leben in unsicheren Zeiten – persönlich, jedes Unternehmen und eine ganze Volkswirtschaft. Unsicheren Zeiten ist immanent, dass Vorhersagen und Voraussagen (noch) schwieriger werden und je weiter man in die Zukunft schaut, desto mehr ist eine Vorauskenntnis mit Unsicherheiten verbunden. Das betrifft z. B. auch den Prognosezeitraum bei der Überschuldungsprüfung gem. § 19 InsO. Derzeit gibt es Vorschläge einschlägiger Verbände, diesen Prognosezeitraum vor allem angesichts der einschneidenden (wirtschaftlichen) Auswirkungen des Ukraine-Kriegs temporär von zwölf Monaten auf sechs bzw. drei Monate zu verkürzen. Unter relativ klar definierten Voraussetzungen gibt es mit der Verkürzung bereits »Übung« im § 4 COVInsAG. Aber lässt sich diese Praxis so einfach übertragen und wiederholen?

Die folgenden Überlegungen unternehmen einen Ausflug in zwei Sphären, in die des Insolvenzrechts und in die des Handelsrechts. Für eine austarierte Einschätzung, ob sich Prognosezeiträume in unsicheren Zeiten »anpassen« lassen, gilt es, auch handelsrechtliche Implikationen und Besonderheiten einzubeziehen. Der Fokus der Überlegungen liegt auf der handelsrechtlichen Betrachtung, da die insolvenzrechtliche Perspektive diese Sphäre nicht selten vernachlässigt.

Letztendlich ist die finale Abwägung, ob Prognosezeiträume temporär anzupassen sind, politisch vorzunehmen. Aus Anlass dieses Beitrags hat der INDat Report das BMJ angefragt, das erklärt: »Das BMJ beobachtet die Auswirkungen, die der Krieg in der Ukraine auf das Wirtschafts- und Insolvenzgeschehen hat, um im Bedarfsfall angemessen und schnell reagieren zu können. Die von Ihnen genannten Vorschläge, den Prognosezeitraum für die Überschuldungsprüfung temporär zu verkürzen, werden im Zuge dieser Prüfungen berücksichtigt.« Das Statement sagt nicht viel, es ist – wie sollte es derzeit auch anders sein – mit einer hohen Prognoseunsicherheit behaftet.

Text: Wirtschaftsprüfer/Steuerberater Michael Hermanns, Buth & Hermanns Partnerschaft mbB Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft

1. Einleitung

Nachdem wir 2020/21 gerade die durch eine Pandemie ausgelöste volkswirtschaftliche Krise zunächst überstanden haben, reiht sich im Februar 2022 ein weiterer Unruheherd mit volkswirtschaftlicher Bedeutung ein, der Ukraine-Krieg. Vor allem der Energiepreisschock wirkt sich flächendeckend über fast alle Industriezweige aus. Die Inflation kommt hinzu und wird begleitet von dem Phänomen, dass die Lieferketten infrage gestellt sind, nicht nur weil beispielsweise ukrainische Kabelbäume nicht mehr lieferbar sind. Auswirkungen hieraus können in vielen Fällen weder in Bezug auf die Zeit noch in Bezug auf alle anderen materiellen Dimensionen vorhersehbar sein. Die Covid-19-Pandemie hat spezifische Branchen hart getroffen und der Staat hat, bei allen Umsetzungsschwierigkeiten, rasch finanziell unterstützt und damit viele Unternehmenskrisen vermieden. Alle hierdurch begünstigten Unternehmen kommen alsbald in den Payback-Modus und haben die staatlichen Kredite zurückzuzahlen, was sicher und damit wenigstens planbar ist. Die Folgen der Covid-19-Pandemie sind in dieser Zeit schwer zu prognostizieren gewesen. Es steht die Vermutung im Raum, dass nunmehr auch durch den Ukraine-Krieg zukünftige Ereignisse grundsätzlich nicht mehr vorhersehbar sein können.

Infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und der zur Eindämmung dieser Pandemie ergriffenen Maßnahmen haben viele Unternehmen 2020 und 2021 erhebliche Umsatz- und Ertragseinbrüche erlitten. Der Gesetzgeber hat für viele dieser Unternehmen Erleichterungen beschlossen. § 4 COVInsAG hat in besonderen Fällen bei der Feststellung der Überschuldung zwischen dem 01.01. und dem 31.12.2021 den nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO festgelegten Prognosezeitraum von zwölf Monaten auf einen Pro­gnosezeitraum von vier Monaten verkürzt. Hiermit sollte den möglichen, seinerzeit bestehenden Prognoseunsicherheiten Rechnung getragen werden. In der Restrukturierungs- und Insolvenzverwalterbranche wird die Meinung vertreten, dass der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Krise ebenfalls nicht hinnehmbare Pro­gnoseunsicherheiten verursachen. Es wird bei der Feststellung des Insolvenzgrunds Überschuldung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO ebenfalls ein verkürzter Prognosehorizont von zwölf auf sechs oder sogar drei Monate gefordert.

Prognosehorizonte gibt es in unterschiedlicher Form. Eine ausschließliche Befassung auf Basis der insolvenzrechtlichen Vorschriften, hier §§  18 Abs.  2 und 19 Abs.  2 InsO, zu führen, wird der Aufgabenstellung eines Geschäftsführers nicht gerecht. Denn diese haben neben den insolvenzrechtlichen Aspekten auch handelsrechtliche zu beachten. Hierzu gehört die Bewertung nach §  252 Abs.  1 Nr. 2 HGB, die sog. Going-Concern-Prämisse. Diese Prämisse besprechen Geschäftsführer mit unterschiedlichen Intensitäten, je nachdem ob man sich in der Unternehmenskrise befindet oder nicht, regelmäßig auch mit ihren Wirtschaftsprüfern. Die handelsrechtlichen Aspekte sind grundsätzlich universell. Es werden die Perspektiven der Geschäftsführung und in Teilen des Abschlussprüfers dargelegt. Insolvenzrechtliche und handelsrechtliche Prognosezeiträume können allerdings nicht dargelegt werden, ohne auf die Begriffe »Fortbestehensprognose« und »Fortführungsprognose« einzugehen. Die Bedeutung der beiden Prognosezeiträume ist eng miteinander verknüpft, und spätestens nach zwei Gläsern Rotwein können auch bei Restrukturierungsprofis die Begrifflichkeiten semantisch »durcheinandergehen«.

Der Beitrag stellt zunächst die unterschiedlichen Welten der insolvenzrechtlichen und handelsrechtlichen Prognosezeiträume mit ihren Prognoseinhalten dar, um dann darauf aufbauend die aktuelle Situation zu analysieren. Dabei ist es eine besondere Note des Handelsrechts, dass mittelgroße und große Unternehmen im Rahmen der Erstellung des Jahresabschlusses und des Lageberichts verpflichtet sind, über wesentliche Unsicherheiten bzw. bestandsgefährdende Risiken zu berichten.

(…)

Inhaltsverzeichnis

3
Editorial
6 Anzeigenübersicht/Impressum
7
Statistiken
8 Namen & Nachrichten
11 Im Gespräch
12
Titel
26 Rechtspfleger & Gerichte
32 Kongresse & Tagungen
40 Hintergrund
58 Dissertattionen zum Restrukturierungs- und Insolvenzrecht