Titelthema | Sascha Woltersdorf | INDat Report 07_2016 | Oktober 2016

Antennen ausfahren für Online Firestorms

Köln. Das Internet ist ein meinungsfreudiges Medium. Und es ist in der Kommunikation rund um Insolvenz, Restrukturierung und Sanierung nicht mehr wegzudenken. Im Netz, insbesondere in den sozialen Medien, entsteht mitunter eine Dynamik, die im Auge behalten werden muss, um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können, wenn sich etwas »zusammenbraut«. Das Kommunikationsdesaster, das sog. Online Firestorms auslösen kann, wird allgemein unterschätzt. Den herkömmlichen Medien wie Zeitung und TV misst man eine viele höhere Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung bei. Selbst gut die Hälfte der großen Konzerne ist auf digitale Empörungswellen nur unzureichend vorbereitet, ermittelte eine Studie. Das Risiko, dass in angespannten und unsicheren Situationen wie der Restrukturierung und dem Insolvenzverfahren über das Netz eine Lawine losgetreten wird, gilt als hoch. Oft haben auf diesem Weg verbreitete Gerüchte eine verheerende Wirkung. Aber es gibt auch Mittel, um das digitale Treiben zeitnah im Auge zu behalten, um abwägend ohne Druck entscheiden zu können, ob Reagieren oder besser doch Ignorieren angezeigt ist.

Ein Unternehmen ist pleite. Ein mittelständischer Süßwarenhersteller, alteingesessenes Traditionshaus, seit vielen Jahrzehnten tief verwurzelt in der Stadt. Nun müssen Hunderte Mitarbeiter gehen und deren Kinder protestieren. »Pleitekinder« nennen sie sich und haben eine Facebook-Gruppe gegründet, auf der sie Bilder von ihrer Demo vor dem Werkstor posten. Die Plakate haben sie selbst gemalt. »Was wird aus uns?«, steht darauf. Oder »Mein Papa ist traurig«. Sofort gibt es Dutzende Facebook-Kommentare, einen Tag später bringt die örtliche Tageszeitung eine Reportage mit vielen Bildern auf »Seite drei«. Wahrscheinlich ist, dass Journalisten und die klassischen Medien wie Print und TV zumindest Ideen aus Facebook und Co. generieren, um sie dann nachzurecherchieren und »nachzudrehen«. Einen weiteren Tag später berichten die »Tagesthemen« über den »Kampf der Kinder«. Danach liegen die »lustigen Schoko-Knabbies« des Unternehmens wie Blei in den Regalen. Niemand kauft Kinderschokolade eines Unternehmens, das Kinder in die Armut treibt. Ein fiktives Beispiel? Sicher. Jedoch kein völlig unrealistisches.
Die Öffentlichkeit – Berichte, Meinungen und Stimmungen – sind für Insolvenzverwalter ohnehin kein zu vernachlässigender Faktor. Durch das Internet und vor allem durch Social Media können Entwicklungen eine Eigendynamik bekommen, die in Zeiten der Dominanz der klassischen, gesendeten oder gedruckten Medien kaum vorstellbar war.
Im Extremfall braut sich etwas zusammen, was im englischen Sprachraum Online Firestorms heißt und neudeutsch »Shitstorm« genannt wird: Auf das Ziel prasselt heftigste Kritik über die Kanäle des Internets ein: Empörung, Wut, Hohn, Sarkasmus, Schmähungen, Schadenfreude. In der vielfältigen Tonalität der Meinungsäußerungen dringen sachliche Argumente kaum noch durch. Schaden am Unternehmensimage droht mit den entsprechenden wirtschaftlichen Folgen. Auf diese Weise könnte aus der Hetze im Netz auch eine Insolvenzverwalter treffende Negativspirale entstehen. In der ersten Gläubigerversammlung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens haben die Gläubiger bekanntermaßen die Möglichkeit, den Verwalter abzuwählen und einen neuen vorzuschlagen. »Im Extremfall kann ein Shitstorm den Druck noch einmal potenzieren, sodass letztlich die anderen Beteiligten sich gezwungen sehen, eine Abwahl zu betreiben, weil sie sonst selbst Ziel der Kampagne werden würden. So ähnlich funktioniert das ja auch in der Politik, z. B. bei anhaltend schlechten Meinungsumfragen. Wenn ein Politiker in den Umfragen sinkt und sinkt und sinkt, dann wird die Partei irgendwann die Konsequenzen ziehen«, analysiert Christoph Möller, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der möller pr GmbH. Aber eigentlich, sagt Kolja Schwab, Leiter Kommunikation der Römermann Rechtsanwälte AG, sei es »eigentlich schon zu spät, wenn ein Shitstorm passiert. Es geht darum, vorher sensibel Kommunikation zu betreiben und Antennen auszufahren.«

Studie: Viele Unternehmen reagieren auf Shitstorms zu spät

Eine Studie unterstreicht diese Position. Gut die Hälfte aller Konzerne sei unzureichend auf solche »digitalen Empörungswellen« – vulgo Shitstorms – vorbereitet, hat die internationale Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer herausgefunden. Freshfields hatte 2013 rund 100 krisenerfahrene PR-Berater in zwölf Ländern Europas, in Asien und in den USA mit »ausführlichen Interviews« befragt. Gemäß den Studienergebnissen breiten sich die Berichte über Unternehmenskrisen auch dank der sozialen Medien rasend schnell aus. Mehr als zwei Drittel (69 %) waren innerhalb von 24 Stunden international bekannt. Selbst bei den Großkonzernen im Fokus der Studie sei – warnen die anwaltlichen Berater – die Reaktion viel zu langsam gewesen: Nach Ausbruch der Krise habe es im Durchschnitt 21 Stunden gedauert, bis Unternehmen zu einer externen Kommunikation in der Lage waren. In 18 % der Zwischenfälle ließ diese Reaktion mehr als 48 Stunden auf sich warten.
Schnelle Reaktion hilft im Zweifelsfall fast immer. Aber selbst die schnellsten Maßnahmen kommen eigentlich zu spät, wenn die Empörungswelle erst einmal durch das Netz rollt. Es muss ja kein Shitstorm drohen, der das ganze Land durcheinanderwirbelt von den sozialen Medien über die Edelfedern der Feuilletons bis hin zu den Stammtischen. Auch Stimmungen unter den an einer Insolvenz Beteiligten sollten Insolvenzverwalter im Auge behalten. Bei größeren Insolvenzverfahren bilden sich häufig sog. Interessengemeinschaften und Schutzgemeinschaften, die aus ihrer Warte die Gläubiger über alle Medien, vor allem über das Internet, informieren. Beispielsweise zählen die kriselnden Mittelstandsanleihen zu den Feldern, auf denen es seit einigen Jahren zunehmend gilt, den Kommunikationsflüssen Aufmerksamkeit zu schenken. Im Vorfeld der Wahl eines oder mehrerer Gemeinsamer Vertreter der Anleihegläubiger werben die Anwärter auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen um Zustimmung gem. §  19 SchVG, weisen auf den weiteren, unsicheren Fortgang des Verfahrens hin und dass die Vorteile für den einzelnen Anleihegläubiger in der Interessenbündelung liege. Dass der einzelne Gemeinsame Vertreter im Insolvenz­verfahren sowohl unterstützend wie auch »belastend« wirken kann, das wissen die Insolvenzverwalter inzwischen, denn ihre Stimme hat besonderes Gewicht.

(…)

Editorial | Peter Reuter | INDat Report 07_2016 | Oktober 2016

Vom aufgeregtem Geplätscher bis zum Sturm der Entrüstung

Empörung an sich ist gut, richtig und wichtig. Sie ist auch in jeder Debatte hilfreich, vor allem wenn sie der Absender sachlich begründet, damit der Adressat reagieren kann. Empörungswellen sind auch an sich gut, richtig und wichtig. Doch ihnen zu begegnen, fällt in Anbetracht ihrer überraschenden Wucht – besonders, wenn sie sich über das WWW schneller als ein Tsunami verbreiten – recht schwer. Doch das muss den Absender erst einmal nicht kümmern. Er macht seinem Anliegen Luft.

Anders verhält es sich, wenn eine Empörungswelle einer Tatsachengrundlage entbehrt, ungeprüfte Gerüchte verbreitet oder sogar strafrechtlich zu verfolgen ist. Dann handelt es sich um einen »Shitstorm«, den der Duden als »Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht«, beschreibt.

Vielleicht mag der eine oder andere digitale Blog nur wenige Besucher anziehen und im Netz nichts anrichten, doch speisen sich gerne Multiplikatoren aus diesen Quellen. Gut, richtig und wichtig ist, wenn diese Multiplikatoren Hinweise aufgreifen, aber sie müssen vor weiterer Verbreitung auch eigene Recherchen anstellen, ob diese Behauptung nun zutrifft oder nicht.

Eine kleine Empörungswelle schwappt(e) seit ein paar Jahren über die Verwalterschaft, wenn es sich nur im Entferntesten nach Insolvenzanfechtung anfühlt. Fakten und Zahlen sind häufig an diese fast automatisierte Aufregung nicht geknüpft, Gegenargumente zum Sinn und Zweck der Anfechtung verpuffen nicht selten. Und so kam es auch, dass die Schadenersatzklage im Fall P+S Werften i. H. v. 514 Mio. Euro schnell medial im Anfechtungstopf landete und als Beweis für dringende Reformen am Anfechtungsrecht herhalten musste. Hohe Summen und Insolvenzverwalter lösen dann analog oder digital die reflexhafte Verknüpfung zu »Anfechtung« aus.

Unsauber verbreitet und berichtet, gab es schon immer, doch mit dem digitalen Potenzial kann eine News schnell eine Lawine lostreten – im Netz oder durch das Netz gespeist für alle anderen Kanäle.

Inhaltsverzeichnis

3
Editorial
 
5
INDat Barometer I
 
6
Namen & Nachrichten
 
8
Titel
 
Digitale Empörungswellen bei Restrukturierung und Insolvenz Antennen ausfahren für Online Firestorms
14
Berater & Kanzleien
RAin Dr. Alexandra Schluck-Amend (CMS Hasche Sigle) Brandschutz aufbauen und Feuer löschen
Brandschutz aufbauen und Feuer löschen
18
Hintergrund
 
Klage auf 514 Mio. Euro: KPMG AG und KPMG Europe LLP im Visier des Verwalters
20
Verwalter & Kanzleien
RA Dr. Steffen Koch (hww hermann wienberg wilhelm)
Grenzüberschreitend zur Neutralität verpflichtet
24
Im Gespräch
Prof. Dr. Stephan Madaus
Rechtsvergleichendes ELI-Forschungsprojekt Mankos bei institutioneller Qualität machen London attraktiv
27
Kongresse & Tagungen
25. Restrukturierungsgipfel in Frankfurt
Je früher, desto besser
30
6. Sanierungskonferenz der SRH Hochschule Heidelberg
Transfer von Wissen, Erfahrung und Kontakten
34
9. Jahrestagung der Neuen Insolvenzverwalter­- ver­einigung Deutschland e. V. (NIVD) in Berlin
Kein Blatt vor den Mund genommen
39
6. Norddeutscher Verwalterkongress in Hannover
Gefahrgeneigt in und außerhalb Ortsnähe
42
Workshops & Vorträge
Doktoranden-Workshop »Restrukturierung und Insolvenz« in Berlin
Rede und Gegenrede unter Gleichgesinnten
46
Symposien & Vorträge
7. Symposium des Instituts für Internationales und Europäisches Insolvenzrecht in Köln
Spielräume vor der Insolvenz
48
 
Restrukturierungszirkel der Universität Bonn
BGH zur Vorsatzanfechtung: Neues zu den Anforderungen an Sanierungskonzepte?
50
INDat Statistik
Top 30 Verwalter, Top 30 Kanzleien, Top 10 Gerichte
 
51
INDat Barometer II
 
 
54
Veranstaltungen, Impressum, Vorschau