Titel | INDat Report 07_2023 | September 2023
Wie die EU-Kommission mit dem Richtlinienvorschlag COM (2022) 702 der Einschätzung der von ihr eingesetzten Expertengruppe gefolgt ist.
Berlin/Brüssel. Der Veröffentlichung des Richtlinienvorschlags zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts (COM (2022) 702) durch die Europäische Kommission am 07.12.2022 ging ein umfangreicher und jahrelanger Entstehungsprozess voran. Dazu gehörte neben der Möglichkeit, zum Fahrplan bzw. im Rahmen einer Konsultation ein Feedback zum Harmonisierungsvorhaben der Kommission zu geben, auch die Einsetzung einer beratenden Expertengruppe aus den EU-Mitgliedstaaten, die neun Mal zwischen dem 12.04.2021 und 28.01.2022 tagte. Die Sitzungsberichte der Gruppe aus 31 Mitgliedern wurden zwischenzeitlich veröffentlicht, allerdings erst anderthalb Jahre nach der letzten Sitzung. Seit dem 24.07.2023 sind die neun Protokolle auf der EU-Website zugänglich gemacht worden. Ob die EU-Kommission mit dem Richtlinienvorschlag den Empfehlungen und Vorschlägen der Experten gefolgt ist, ist Gegenstand des nachfolgenden Beitrags.
Text: Rechtsanwalt Dr. Daniel Bergner, Ass. Jur. Judith Berg
Einleitung
Die Einsetzung formeller und informeller Expertengruppe seitens der Europäischen Kommission ist seit Langem ein probates, jedoch bei Weitem nicht das einzige Mittel, externen Sachverstand in europäische Gesetzgebungsprozesse einfließen zu lassen. Eine Funktion dieser Expertengruppen liegt regelmäßig darin, die Kommission im Hinblick auf die Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen und politischen Initiativen zu unterstützen. Die Auswahl der Mitglieder einer solchen Gruppe erfolgt, jedenfalls seit 2016, über einen standardisierten (Bewerbungs- und Auswahl-)Prozess.
Die Expertengruppe für Restrukturierung und Insolvenzrecht besteht nicht erst seit den Vorarbeiten zum aktuellen Richtlinienvorschlag, sondern wurde bereits im Rahmen der Entstehung der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz ((EU) 2019/1023) eingerichtet. Die ursprüngliche Gruppe wurde nach einem Bewerbungsaufruf im Herbst 2020 auf 31 Mitglieder erweitert. Die Gruppe besteht nun zu zwei Dritteln aus Sachverständigen in persönlicher Funktion (sog. Typ A) und einem Drittel aus Sachverständigen, die als Vertretung einer Interessengruppe ernannt wurden (sog. Typ B).
Der Auftrag der Expertengruppe wurde wie folgt definiert: »Im Rahmen der aktuellen Gesetzgebungsinitiative, die bis Ende 2016 verabschiedet werden soll, wird die Gruppe die Kommission unter anderem dabei unterstützen, die folgenden Fragen zu prüfen:
- den Anwendungsbereich des neuen Instruments im Hinblick auf das Ziel, den freien Kapitalverkehr im Binnenmarkt zu erleichtern, die Durchsetzung von Forderungen bei Insolvenz zu verbessern und natürlichen Personen eine zweite Chance zu geben;
- gemeinsame Definitionen;
- gemeinsame Grundsätze und Regeln im Bereich der präventiven Umstrukturierungsverfahren (d. h. die Folgemaßnahmen zur Empfehlung der Kommission);
- gemeinsame Grundsätze und Vorschriften im Bereich der förmlichen Insolvenzverfahren (z. B. Anmeldung von Forderungen, Voraussetzungen für den Zugang zu den Verfahren, Anfechtungsklagen, Rangfolge der Forderungen);
- gemeinsame Grundsätze und Vorschriften im Bereich der Insolvenz natürlicher Personen, um ehrlichen Schuldnern
eine zweite Chance zu geben; - gemeinsame Grundsätze und Vorschriften in damit zusammenhängenden Bereichen, wie z. B. die Qualifikationen von Insolvenzverwaltern und die Pflichten, die Haftung und die Rechtsverluste von Geschäftsführern im Zusammenhang
mit einer Insolvenz; - die Koordinierung zwischen der Europäischen Insolvenzverordnung 2015/848 und dem neuen Instrument;
- Sonderregelungen für KMU als Schuldner und Gläubiger mit dem Ziel, ihre Kosten zu senken und ihnen den Zugang zu Umstrukturierungs- und Insolvenzverfahren zu erleichtern;
- alle sonstigen Maßnahmen zur Verringerung der Kosten und der Dauer von Insolvenzverfahren.«
Die künftigen Aufgaben der Gruppe sollten entsprechend dem Bedarf der Kommission im Hinblick auf die Vorbereitung weiterer Initiativen im Bereich des Insolvenz- und Sanierungsrechts festgelegt werden.
Die Zielsetzung wurde aufgrund der Annahme des neuen Aktionsplans für die Kapitalmarktunion durch die Kommission im September 2020 angepasst, da dieser u. a. vorsah, dass die Insolvenzvorschriften stärker harmonisiert oder konvergenter werden sollen. Die Expertengruppe sollte die Kernaspekte der nationalen Insolvenzgesetze untersuchen und mögliche Punkte ermitteln, die für eine Harmonisierung infrage kommen könnten. Die Gruppe kam in der Folge im Zeitraum von April 2021 bis Januar 2022 in neun Sitzungen zusammen. Die – mit erheblicher Verzögerung – veröffentlichten Sitzungsprotokolle geben einen Einblick in die Diskussion einzelner Themenkomplexe und enthalten (Hinweise auf) Schlussfolgerungen/Empfehlungen der Experten. Die Vorarbeiten bzw. Ausarbeitungen der einzelnen Untergruppen sind nicht Teil der Berichte und wurden nicht veröffentlicht. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich daher auf die in den Sitzungsberichten veröffentlichten Inhalte.
Im Hinblick auf die Schlussfolgerungen/Empfehlungen der Experten sei vorangestellt, dass die Rahmenregelungen für Expertengruppen der Kommission in ihren zentralen Grundsätzen bestimmen, dass diese Stellungnahmen oder Empfehlungen abgeben und Berichte einreichen können, jedoch keine (für die Kommission) verbindlichen Entscheidungen treffen. »(…) Expertengruppen sind von der Kommission oder ihren Dienststellen eingesetzte beratende Gremien (…). (…) Es bleibt der Kommission und ihren Dienststellen überlassen, auf welche Weise sie das Fachwissen und die Ansichten der Experten berücksichtigen, wobei sie bei jedem Vorschlag einer neuen Richtlinie oder Maßnahme stets nach der besten Lösung im allgemeinen Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten streben.« (…)